Clemens Graf York von Wartenburg
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Gastbeitrag in der Börsen-Zeitung von Kartellrechtspartner Clemens Graf York von Wartenburg (Frankfurt/Brüssel) und Associate Thirith von Döhren (Frankfurt).
Kooperationen zwischen Unternehmen sind stets am Maßstab des Kartellrechts zu messen. Dies gilt nicht nur für Beziehungen zwischen Wettbewerbern, d. h. Unternehmen, die auf derselben Stufe der Wertschöpfungskette agieren (sogenannte "horizontale" Vereinbarungen). Erfasst sind auch Vereinbarungen zwischen Unternehmen, die auf unterschiedlichen Ebenen der Produktions- und Vertriebskette tätig sind.
Solchen sogenannten "vertikalen" Vereinbarungen stehen die Wettbewerbsbehörden allerdings traditionell wohlwollender gegenüber. Dahinter steht der wettbewerbsökonomische Gedanke, dass vertikale Vereinbarungen häufig zu Effizienzgewinnen führen und so letztlich Vorteile für den Verbraucher, etwa in Form günstigerer oder besserer Produkte, mit sich bringen. Unternehmen müssen allerdings nach dem Grundsatz der Selbstveranlagung selbst prüfen, ob ihre Vereinbarungen mit den einschlägigen kartellrechtlichen Regeln vereinbar sind.
Um den Unternehmen diese oft komplexe Selbsteinschätzung zu erleichtern, hat die EU-Kommission bereits vor 20 Jahren eine sogenannte Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung, kurz Vertikal-GVO, erlassen und parallel hierzu Leitlinien mit Erläuterungen und Beispielen veröffentlicht. Erfüllt eine vertikale Vereinbarung die Voraussetzungen der Vertikal-GVO, so befinden sich die Beteiligten in einem "sicheren Hafen" und ihre Vereinbarung gilt als vom Kartellverbot freigestellt. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn keines der beteiligten Unternehmen einen allzu hohen Marktanteil hat und keine Regelungen getroffen werden, die zu den sogenannten "Kernbeschränkungen" zählen (etwa wenn dem Händler seitens des Herstellers ein (Mindest-)Preis vorgeschrieben wird).
Die in der Vertikal-GVO enthaltenen Regelungen haben sich in der Praxis, trotz weiterhin auftretender Unklarheiten, als äußerst nützliche Hilfestellungen für Unternehmen erwiesen. Allerdings sind sie in ihrer aktuellen Fassung zeitlich begrenzt und laufen am 31. Mai 2022 aus. Daher startete die Kommission bereits im Herbst 2018 eine aufwendige Evaluierungsphase mit öffentlicher Konsultation, Workshops und dem Austausch mit den nationalen Wettbewerbsbehörden. Ziel war es herauszufinden, ob und inwieweit Vertikal-GVO und Leitlinien ihren Zweck nach wie vor erfüllen.
Als vorläufigen Höhepunkt ihrer Evaluierung hat die Kommission im September dieses Jahres ein sogenanntes "Arbeitspapier" veröffentlicht. Dieses gibt zwar noch keine endgültige Positionierung der Kommission wieder, lässt aber deutlich erkennen, in welche Richtung sie die Vertikal-GVO entwickeln könnte. Als Kernstück der Reform zeichnet sich eine stärkere Berücksichtigung des Online-Vertriebs in den einschlägigen Vorschriften ab. So kommt die Kommission in ihrem Arbeitspapier zu der Erkenntnis, dass die Vertikal-GVO und ihre Leitlinien den Unternehmen gerade (aber nicht nur) im Bereich des Online-Handels derzeit keinen ausreichend klaren Leitfaden zur Selbstevaluierung an die Hand geben.
Dies verwundert nicht, stammt die Vertikal-GVO doch aus einer Zeit, als der Online-Handel und die Plattformökonomie noch am Anfang standen. Die in ihr enthaltenen Regelungen stellen auf das klassische Vertriebssystem, Hersteller-Großhändler-Einzelhändler, ab. Die aufgrund des Erstarkens digitaler Vertriebsformen veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen werfen jedoch eine Vielzahl neuer Fragen auf. Diese betreffen beispielsweise die rechtliche Einordnung der Verhältnisse der einzelnen Akteure in der Online-Lieferkette zueinander. So ist nach wie vor unklar, wie Online-Plattformen, die häufig eine Doppelrolle als Marktplatz und Händler wahrnehmen, innerhalb der Lieferkette einzuordnen sind. Diese Plattformen verfügen bekanntlich häufig über erhebliche Marktmacht. Ungeklärt ist auch die rechtliche Einordnung der Beziehung zwischen Händlern und solchen Herstellern, die ihre Produkte direkt über das Internet anbieten und somit in Wettbewerb mit ihren Händlern treten ("dualer Vertrieb").
Sämtliche Akteure entlang der Lieferkette sehen sich zudem in der Welt des Online-Handels neuen, grundlegenden Herausforderungen ausgesetzt. So kann heutzutage ein Unternehmen ohne nennenswerte Infrastruktur Produkte erwerben und online weiterverkaufen. Ein solcher reiner Online-Händler hat naturgemäß erheblich niedrigere Kosten als etwa ein Verkaufsgeschäft in der Innenstadt, das geschultes Beratungspersonal einsetzt. Für den Hersteller kann sich somit bei der Organisation seiner Vertriebsstruktur ein Konflikt zwischen dem Wunsch nach hoher Vertriebsreichweite seiner Produkte und angemessener Kundenbetreuung ergeben.
Bei unautorisiertem Online-Vertrieb durch Händler, etwa über Online-Plattformen, kann zudem die Marke des Herstellers Schaden nehmen. Für das Vertriebsunternehmen mit stationärer Verkaufsstruktur droht wiederum eine Freerider-Problematik: Kunden können ein Produkt in natura begutachten und sich fachkundig beraten lassen, ihren Kauf dann aber online tätigen. Den Online-Plattformen ist, soweit sie ihren Umsatz in erster Linie durch Kommissionen erzielen, schließlich daran gelegen, dass Anbieter ihre attraktivsten Angebote auf ihrer Vergleichsplattform anbieten, so dass das Geschäft mit dem Kunden auch über diese Plattform abgewickelt wird.
Auf diese Herausforderungen reagieren die Unternehmen häufig mit restriktiven Vertragsklauseln. Hierzu gehören "klassische" Restriktionen, wie etwa vertikale Preisbindungen und selektive Vertriebssysteme, aber auch online-spezifische Einschränkungen wie etwa Marktplatz-Verbote. Hinzu kommen seitens der Plattformbetreiber sogenannte Preisparitätsklauseln, die es einem Anbieter, etwa einem Hotel, verbieten, sein Angebot an anderer Stelle zu günstigeren Konditionen als auf der Plattform anzubieten.
Zwar gibt es zu einzelnen Teilaspekten des Vertriebskartellrechts im Online-Bereich bereits behördliche Entscheidungen und sogar höchstrichterliche Rechtsprechung. Doch werden sich bestehende Unsicherheiten in vielen Fällen erst durch einheitliche Regeln und Leitlinien auf europäischer Ebene beseitigen lassen. Die Kommission äußert sich in ihrem Arbeitspapier nicht dazu, wie solche Regeln im Einzelnen auszugestalten wären. Konkrete Hinweise lassen sich jedoch einer kürzlich von ihr veröffentlichten "Roadmap" entnehmen. Dort werden Änderungen der geltenden Regeln etwa im Hinblick auf die rechtliche Bewertung des dualen Vertriebs ins Auge gefasst. Dieser könnte künftig einem strengeren Maßstab unterworfen werden.
Ferner wird die Frage aufgeworfen, ob die unterschiedliche Behandlung von stationärem und Online-Vertrieb im Rahmen von Vertriebsvereinbarungen (zum Beispiel durch sogenannte "Doppelpreissysteme"), die bislang als grundsätzlich unzulässige indirekte Beschränkung des Online-Vertriebs galt, künftig einer Einzelfallbetrachtung unterliegen sollte. Außerdem wird erwogen, Preisparitätsklauseln, die nach der Vertikal-GVO grundsätzlich als kartellrechtlich unproblematisch galten, ganz oder teilweise den Schutz der GVO zu entziehen.
Interessenvertreter haben nun bis zum 20. November Zeit, zu den von der Kommission in ihrer Roadmap vorgeschlagenen Handlungsoptionen Stellung zu nehmen. Der Entwurf einer aktualisierten Fassung der Vertikal-GVO wird für das kommende Jahr erwartet. Auch hierzu wird die EU-Kommission Stakeholdern die Möglichkeit öffentlicher Stellungnahmen einräumen. Die neue Verordnung soll dann im zweiten Quartal des Jahres 2022 in Kraft treten.
Angesichts der Allgegenwärtigkeit von Vertriebsvereinbarungen mit Online-Bezug ist eine Verringerung des Prüfaufwands für die Unternehmen durch die Einführung einfacher juristischer Kriterien unerlässlich. Es bleibt daher zu hoffen, dass die neugefasste Vertikal-GVO zur Klärung der vielen derzeit noch offenen kartellrechtlichen Fragen und somit zu mehr Rechtssicherheit im Bereich des Online-Vertriebs beitragen wird.
Börsen-Zeitung, 7.11.2020, Nummer 215, Seite 9